Olaf Ludwig: „Das ist modernes Gladiatorentum“

Olaf Ludwig hat in seiner Radsportkarriere viel erlebt – und viel gewonnen. Der 63-Jährige holte das Grüne Trikots des besten Sprinters bei der Tour de France, wurde Olympiasieger, triumphierte beim Amsel Gold Race und feierte 36 (!) Etappenerfolge bei der Friedensfahrt. Beim LILA LOGISTIK Charity Bike Cup am 3. Oktober in Marbach am Neckar wird er es langsamer angehen lassen. Doch zuvor spricht er über den Wandel im Radsport, die Perspektiven der deutschen Fahrer und die Tour-de-France-Dokumentation auf Netflix.

Olaf Ludwig, wie sehr verfolgen Sie das aktuelle Radsportgeschehen noch?
Ich bin und bleibe Radsportler durch und durch. Deshalb schaue ich mir die Rennen natürlich an – wenn auch mit einer gewissen Distanz.

Wieso mit einer gewissen Distanz?
Das ist nicht mehr mein Radsport. Aber bitte nicht falsch verstehen: Ich meine das gar nicht wertend. Nur ist das alles nicht mehr mit dem Sport zu vergleichen, den wir früher ausgeübt haben. Das ist ein himmelgroßer Unterschied.

Inwiefern?

Schauen Sie sich doch mal an, wie sehr sich alles professionalisiert hat. Die ganze Trainingslehre, der wissenschaftliche Ansatz in allen Bereichen. Von der Aerodynamik über die Ernährung bis hin zu individuellen Athletikplänen inklusive Yoga. Wenn uns das damals jemand vorgeschlagen hätte – ich glaube, wir hätten uns umgedreht und den Raum von außen verschlossen. Das war einfach eine andere Zeit.

Ist das negativ oder positiv?
Es ist anders. Diese Entwicklung hilft natürlich, bessere Leistungen bringen zu können.

Aber?

(Lacht.) Aber dafür hatten wir mehr Spaß.

Wie ehrgeizig sind Sie denn noch, wenn Sie heute aufs Rad steigen?
Überhaupt nicht.

Immerhin fahren Sie beim LILA LOGISTIK Charity Bike Cup beim LILA Race mit Zeitmessung mit…

Aber nicht, weil ich Erster werden will. Das Schöne an der Veranstaltung ist ja, dass sie für jeden etwas bietet. Wer sich austoben und auf Anschlag fahren will, kann das gerne tun. Ich bin eher in der Gruppe, in der man gemütlich unterwegs ist und auch mal Zeit für eine Plauderei hat. Ich muss mir nicht mehr das Weiß in die Augen fahren.

Das LILA Race ist ausgebucht, auch für die Tour gibt es nur noch wenige Restplätze. Überrascht?
Überhaupt nicht. Das ist einfach ein richtig guter Mix aus Bewegung und der Begegnung mit vielen bekannten Gesichtern aus unterschiedlichsten Sparten. Es kommen ja nicht nur Radsportler, sondern auch Fußballer, Schauspieler, Skispringer und Biathleten und so weiter. Gleichzeitig unterstützt man noch Kinder in Not. Besser geht’s doch nicht.

Ist das große Interesse auch ein Zeichen dafür, dass der Radsport wieder an Popularität gewinnt. Auch weil ein Rennen wie die Tour de France extrem publikumswirksam präsentiert wird – beispielsweise in einer Netflix-Dokument. Das bringt einigen den Radsport vielleicht etwas näher.
Wem denn? Den Belgiern? Denen muss man nichts mehr über Radsport erzählen.

Dem einen oder anderen Sportinteressierten in Deutschland vielleicht schon.

Ganz ehrlich: Ich glaube nicht, dass wir aus Deutschland noch eine Radsportnation machen.

Warum so pessimistisch?
ich würde es eher realistisch nennen. Erinnern Sie sich an den Giro d’Italia im vergangenen Jahr?

Als der Australier Jai Hindley gewann?
Genau. Von Bora-hansgrohe, einem deutschen Team. Das lief hierzulande aber fast komplett unter dem Radar. Mein Eindruck ist, dass sich die Deutschen mit Ausnahme vom Fußball nur dann für Sportarten interessieren, wenn auch Deutsche gewinnen. Und auf den Radsport bezogen selbst dann nur, wenn es um die Tour de France geht. Und ich weiß nicht, ob sich das durch solche Dokumentationen ändert. Zumal ich da noch ein ganz anderes Problem sehe.

Welches?
So eine Serie und auch die TV-Übertragungen leben natürlich von spektakulären Bildern. Entsprechend ist mittlerweile auch die Streckenführung. Es muss immer noch höher gehen, immer noch brutaler werden. Vier Berge? Ach ne, lass lieber fünf machen. Spektakel, Spektakel, Spektakel. Muss das wirklich sein? Zumal es im Gegensatz zu früher ja von der ersten Minute an mit Vollgas losgeht.

Das war zu Ihrer Zeit anders?
Zu meiner Anfangszeit hatten wir bei der Tour auch mal eine Etappe von knapp 300 Kilometern. Aber da sind wir in einem Tempo gefahren – da wäre wahrscheinlich jeder Hobbyradsportler mitgekommen. Weil wir uns einig waren im Feld. Das gibt es heute nicht mehr. Eine Tour de France ist mittlerweile modernes Gladiatorentum.

Dominiert von Tour-Sieger Jonas Vingegaard und seinem härtesten Konkurrenten Tadej Pogacar. Beide sind erst Mitte 20. Wird dieses Duell die nächsten Jahre prägen?
Bei der Tour sicherlich. Vielleicht kann Primoz Roglic noch eingreifen. Aber es gibt ja auch noch andere Rennen und Ausnahmeathleten wie Mathieu van der Poel, Wout van Aert, Remco Evenepoel oder Thomas Pidcock. Das ist schon eine ganz außergewöhnliche Generation an Radsportlern.  

Wir vermissen bei der Antwort etwas.
Was denn?

Deutsche Athleten.

Wir haben einige gute Jungs wie Lennard Kämna, Nils Politt oder Emanuel Buchmann, die immer mal wieder punktuell vorne reinfahren können. Das sind super Rennfahrer. Aber ich glaube nicht, dass es reicht, um konstant vorne mitmischen zu können.